Ausgangslage



1    Viele Probleme wurden angegangen: Die Welt ist gesünder, wohlhabender und gebildeter

Die Welt ist gesünder, wohlhabender und gebildeter als noch vor 30 Jahren, auch wenn viele Menschen das in Europa vielleicht nicht so empfinden. Die objektiven Fortschritte auf dem Gebiet der sozialen Menschenrechte sind an vielen Indikatoren ablesbar wie z.B. an der Unterernährung, dem Analphabetismus, der medizinischen Versorgung, dem Lebensstandard, der (zumindest rechtlichen) Gleichstellung von Frauen und „Minderheiten“ etc.
Viele Länder, die vor 30 Jahren noch als Entwicklungsländer galten und die gut die Hälfte der Erdbevölkerung ausmachen (China, Indien, Brasilien, Südostasien…), haben heute als „Schwellenländer“ eigene funktionierende Volkswirtschaften mit guten Lebensverhältnissen für relevante Bevölkerungsanteile aufgebaut, die bisher den westlichen und z.T. den ehemals sozialistischen Industriestaaten vorbehalten waren.
Ausgeschlossen von dieser Entwicklung und nach wie vor von breitem Elend bedroht sind viele Länder hauptsächlich in Afrika, aber auch in dauerhaft diktatorischen oder Krisenstaaten (wie z.B. Nordkorea oder Afghanistan), in denen politische, soziale und religiöse/kulturelle Bedingungen eine wirtschaftliche Entwicklung verhindern.
Diese globalen Fortschritte wurden in einer weltweiten Hegemonie des Kapitalismus erreicht, verbunden mit demokratischen Ideologien und Haltungen, die aus den sozialen und politischen Bewegungen der 60er und 70er Jahre hervorgegangenen sind. Allerdings wurde aus diesen Ideologien und Haltungen auf ihrem Weg durch die Institutionen alle ehemals vorhandene Kapitalismus-, Staats- und Bürokratiekritik gestrichen. Das heutige – aus Sicht rechter sozialer Bewegungen und Trump- oder AfD-WählerInnen - „linke“ Establishment - also Menschen wie Guterres, Papst Franziskus, Merkel oder Clinton - steht für diese Entwicklung.

2    Viele Probleme bleiben und verschärfen sich, neue kommen hinzu

Trotz der dargestellten Fortschritte bleibt eine Reihe von Problemen bestehen und entsteht im sozialen und ökologischen Bereich auch immer wieder neu. Ein Wirtschaftssystem, das ohne ständiges Wachstum ebenso wenig überleben kann wie ohne soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, lässt sich nicht dauerhaft, sondern jeweils nur zum Teil und kurzfristig in ökologisch und sozial wünschenswerte Bahnen lenken, teilweise werden nicht einmal die lebensnotwendigen Grenzen beachtet.

            Die Welt überschreitet zunehmend ihre ökologischen Grenzen

Die Folgen des Wachstums überschreiten seit längerem und zunehmend die ökologischen Grenzen unterschiedlicher Regionen der Welt, und seit einigen Jahrzehnten auch die des gesamten Planeten. Die Folgen - Entwaldung; Vernichtung landwirtschaftlich nutzbarer Flächen durch Wüstenbildung, Erschöpfung von Trinkwasservorräten und Böden; Überfischung der Meere und Ozeane; Raubbau an Ressourcen - sind in vielen Regionen schon heute zu spüren.
Diese Aussage gilt global, auch wenn regionale Grenzen, z.B. bezüglich Wasserversorgung und -qualität oder Immissionsschutz, in vielen entwickelten Staaten weniger überschritten werden als noch vor 40 Jahren.
Auch der Klimawandel, der absehbar in den nächsten Jahrzehnten die größte globale Bedrohung darstellt, hat - hervorgerufen durch die Emission klimawirksamer Gase - begonnen. Er gefährdet die meist dicht besiedelten Küstenregionen der Erde, bedroht die Wasserversorgung in vielen Regionen und wirkt auf die weltweiten Ökosysteme. 

            Hegemonialinteressen, Kriegsgebiete und Failed States

Nach dem Ende der Blockkonfrontation durch die Niederlage des schwächeren Partners ist der global vernetzte Kapitalismus als einziges Weltsystem übriggeblieben. Auch China, neben Vietnam, Kuba und dem diktatorischen Atom-Kleinstaat Nordkorea, das einzig verbliebene formal sozialistische Land, agiert international und zunehmend auch intern kapitalistisch.
Vielleicht aus Angst vor der totalen Vernichtung, aber sicher auch, weil das Kapital wesentlich internationaler ist als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deutet wenig auf die Vorbereitung eines weiteren Weltkrieges hin. Lokale Konflikte wie in Syrien, in der Ukraine, auf der Krim oder in Kurdistan haben meist auch Aspekte von Stellvertreterkriegen, aber es sieht glücklicherweise bisher nicht so aus, als würde eine der Weltmächte für seine dortigen Interessen oder Bündnispartner einen großen Krieg riskieren. Allerdings geraten die Großmächte USA, CHN und RUS zunehmend aneinander, und Trump droht mit einer Neuauflage des atomaren Rüstungswettlaufs.
Andererseits bedeutet dies auch, dass bestehende Krisengebiete häufiger zu Dauerkonflikten werden. Keiner der Gegner kann gewinnen, und insgesamt brechen die betroffenen Staaten oder Regionen auf Dauer politisch, sozial und ökologisch zusammen, werden zu Failed States, in denen Warlords und Clans herrschen und die gesellschaftliche Struktur vorgeben. Diese Tendenz wird verstärkt, wenn es nach Ende der Blockkonfrontation häufig nicht mehr nur zwei Konfliktparteien gibt, sondern drei oder mehrere. Hier kann jeweils ein Teil der Kontrahenten, wenn sie zu unterliegen drohen, Zweckbündnisse gegen den oder die anderen eingehen. Im Nahen Osten und in Afrika verbreitet sich diese Konstellation durch das Auftreten des Islamismus. Dieser wurde zunächst vom Westen gefördert - als Taliban gegen die damalige UdSSR oder als Hamas gegen die sozialistische PLO/Fatah - und richtet sich jetzt gegen die ehemaligen Ziehväter. Gleichzeitig bestehen z.T. Strukturen der alten Ost-West-Logik fort, was z.B. in Syrien zu wechselnden Bündnissen mit dauerhaften Kriegshandlungen und totaler Vernichtung der Infrastruktur führt.  Ähnliche Konflikte, z.T. vom Westen angefeuert, um Regimewechsel zu erreichen, bewirken auf Dauer auch eine Zerstörung der Staatlichkeit in ehemals relativ (zu ihrem Umfeld) wohlhabenden und funktionierenden Staaten wie Irak oder Libyen.
Das Problem der Failed States in Entwicklungsländern, dass ja auch ehemals relativ hoch entwickelte und stabile Staaten wie Syrien und Afghanistan in den 60er Jahren betrifft, kann sich auf industriell entwickelte Staaten ausdehnen, wenn auch hier längerfristig Bedingungen bestehen bleiben, in denen Dauerkonflikte die Gesellschaft unterminieren und die Staatlichkeit zerstören. Bedroht sind z.B. die Ukraine und Griechenland.

            Ökonomisch-soziale Dauerkrise auch in Europa - Prekariat statt Proletariat

In Europa hat die Dauerkrise bisher nur in Ausnahmefällen zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt. Umbrüche der Ökonomie und Folgen zunehmender wirtschaftlicher Machtgefälle wurden durch die Zerschlagung der Sozialsysteme, Einforderung individueller Flexibilität und Finanz- und Währungspolitik der EU und der EZB aufgefangen. Leidtragende sind die schwächeren Volkswirtschaften Südeuropas, insbesondere darin die sozial Deklassierten und die Jugend sowie das europaweit wachsende Prekariat.
Auch das “linke” Establishment[1]  kann seine sozialen Versprechungen nach ausreichender Ernährung, Bildung, Gesundheit und dem Erhalt der ökologischen Lebensgrundlagen und einer lebenswerten Umwelt also nicht dauerhaft und nicht für alle Menschen einlösen. Das Establishment kann aber - mit Recht - auf die grundsätzlichen Fortschritte der letzten Jahrzehnte verweisen und sich damit noch wirkungsvoller als das herrschende Ideologien sowieso gerne tun - gegen die Kritik von den “Rändern” - gegenwärtig wesentlich von rechts - immunisieren. In dieser Immunisierung liegt die große Gefahr, nicht mehr mitzubekommen, was alles im Argen liegt, und deshalb bei allen Änderungen auf (systemimmanenten) Konsens zu setzen. Wesentliche Änderungen, auch einfache, garantiert nicht systemsprengende, die eigentlich auf der Hand liegen und seit Jahren umgesetzt werden könnten, werden nicht angegangen. Beispiele seien hier die dauerhafte Unterausstattung der Bildung sowie die Energiewende - insbesondere die Sektoren Energieversorgung, Wohnen, Mobilität -, weil es immer genügend starke Interessengruppen gibt - Energiekonzerne, Wohnungsbauunternehmen, Automobilkonzerne -, die dagegenstehen und das eigentliche Ziel ad absurdum führen.
In einer entsprechend festgefahrenen Lage sollte sich die Linke im Grundsatz von der Eingebundenheit ins Establishment befreien, will sie nicht, dass sich die zunehmende Anzahl Unzufriedener nur noch von rechts vertreten fühlt. Dies bedeutet auch, sehr vorsichtig mit Regierungsbeteiligungen umzugehen.[2] 

3         Rechtspopulismus, Autokratie und Fundamentalismus

Auch weil die wesentlichsten Teile der Linken (Linke Sozialdemokratie, Grüne, DIE LINKE) zum “Establishment” zählen - oder mindestens zu dem zählen, was die VertreterInnen des populistischen Lagers als solches bezeichnen, bleibt die Fundamentalkritik bis auf wenige Ausnahmen dem Rechtspopulismus, dem religiösen Fundamentalismus und autokratischen/autoritären Lösungsangeboten vorbehalten[3]. Entsprechend wachsen Bewegungen wie Pegida, Taliban, Kreationisten, Reichsbürger bis zum Islamischen Staat als vorerst mörderischster Ausprägung rationaler Organisation auf irrational-menschenverachtender Grundlage. In demokratischen Staaten wie Ungarn, Russland, Ukraine, Türkei und möglicherweise jetzt auch Polen und die USA, setzen sich zunehmend autokratische Systeme und Führer durch, jeweils getragen durch eine nationalistische, “rechtspopulistische” Mehrheit im eigenen Lande, fremdenfeindlich und häufig kriegsbereit.
Es gibt eine Reihe spezifischer Entwicklungen, die diese „populistischen“ Ausbruchsversuche aus den oben geschilderten krisenhaften Entwicklungen z.B. mittels Wahlentscheidungen für reaktionäre und autoritäre Parteien befördern. Zwei dieser Entwicklungen möchte ich benennen, obwohl ich sie gegenüber dem Fehlen linker, emanzipatorischer Lösungsangebote letztlich als sekundär ansehe, da sie nur das “Wie?” und kaum das “Warum?” des wachsenden Rechtspopulismus erklären:

            Kompliziertheit der Welt und auch ihrer (wissenschaftlich akzeptierten) Beschreibungen

Durch technische Entwicklungen, die Globalisierung der Wirtschaft und das Internet ist die Welt so kompliziert geworden, dass immer weniger Menschen die Zusammenhänge verstehen können und sich “Höheren Mächten” hilflos ausgeliefert fühlen (müssen?). Dies war immer schon die wichtigste Grundlage zur Entstehung von (Aber-) Glauben. Zurückgedrängt wurde er von den Naturwissenschaften des 17. bis 19. Jahrhunderts und der sich parallel entwickelnden Aufklärung.
Die Welt ist heutzutage aber nicht nur objektiv in ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen kompliziert. Auch ihre wissenschaftliche Beschreibung hat seit Freud, Einstein, Bohr/Heisenberg, Heidegger, Lorenzen, Luhmann und einigen anderen einen Grad der Komplexität erreicht, den kein Mensch mehr in seiner Gesamtheit verstehen, und in dem immer weniger Menschen einen Überblick behalten können. Seit der allgemeinen Relativitätstheorie muss die Erde nicht mehr um die Sonne kreisen, das Bezugssystem kann beliebig gewählt und auch anders gerechnet werden. Ursache und Wirkung folgen laut Quantenphysik nicht immer in der herkömmlichen zeitlichen Reihenfolge aufeinander, und bei allem, was ich vor mir sehe, muss ich mich nach dem Konstruktivismus fragen, was davon auch andere Menschen als „objektiv“ bezeichnen würden und was ich selbst erzeugt habe. 
Das verunsichert berechtigterweise auch „vernünftige“ Menschen. Zusätzlich ermöglicht es auch “objektiven” Scharlatanen Tür und Tor.
·         Warum soll das Deutsche Reich nicht fortbestehen? - einige sinnvolle verfassungstheoretische Argumente dafür gibt es ja. Wie also umgehen mit „Reichsbürgern“?
·         Warum soll Homöopathie nicht funktionieren? - Eine D200 “Potenz” - also Verdünnung um 10-200 - weist zwar ziemlich sicher kein einziges Molekül des gewünschten Wirkstoffes mehr auf, aber vorher hat es ja vielleicht seine “Information” - über Quantenverschränkung oder wie auch immer - an das Lösungsmittel, das wir zu uns nehmen, abgegeben, und letzteres heilt uns dann. Dieser Vergleich soll natürlich nicht Homöopathen mit Reichsbürgern auf eine Stufe stellen. [4]
Natürlich haben immer viele Menschen gelebt, die die jeweiligen wissenschaftlichen Auffassungen und Erklärungen und den sich daraus ergebenden “Stand der Technik” nicht verstanden. Es ist aber neu, dass dieses fehlende Verständnis kein persönliches Problem oder eine persönliche Entscheidung mehr ist, bei der ich zu dumm bin, keine Zeit oder keine Lust habe, etwas zu verstehen und entsprechend zu lernen. Sondern diese Situation gilt, je nach Tiefe des angestrebten Verständnisses, für alle Menschen. Und dieses Wissen oder auch nur das Bauchgefühl, dass auch die da oben nur im Trüben fischen, verstärkt wiederum die Tendenz zur Scharlatanerie und zu Verschwörungstheorien.   
Aber auch Menschen, denen das alles egal ist, die sich an die “alten Wahrheiten” des “gesunden Menschenverstandes” halten, die es nicht stört, nicht zu wissen, was eigentlich los ist, und die sich trotzdem oder auch gerade deshalb nicht von Scharlatanen einfangen lassen, kommen um die Kompliziertheit der Welt nicht herum.
·         Wo früher ein Klempner oder Heizungsmonteur reichte, um Rohre zu verlegen und einen Heizkessel anzuschließen, muss jetzt ggf. eine Solarwärmeanlage eingebunden, eine Klimaanlage eingeregelt und die Wärmerückgewinnung der Abluft sichergestellt werden.
·         Für die Arbeit einer Erzieherin reichte früher ein Hauptschulabschluss, sofern Liebe zu Kindern und Empathie vorhanden waren. Liebe und Empathie sind beim Zustand vieler Familien heute noch wichtiger als früher, aber zusätzlich werden eigentlich ein Abitur und ein entsprechendes sozialpädagogisches Studium benötigt, um adäquat auf die differenzierten sozialen Bedingungen, Herkunft, Fähigkeiten, Probleme und Bedürfnisse der Kinder eingehen zu können und sie für die Anforderungen der Zukunft „fit zu machen“. 
Was sollen in dieser Situation aber die Menschen ohne Abitur machen, die nicht ihr Leben lang als VerkäuferIn, Putz- oder Wachkraft arbeiten wollen?

            Medienverhalten und Kommunikationsstruktur

Als Ausweg aus der Komplexität der Welt, ermöglicht durch das Internet und soziale Netze, hat sich ein Medienkonsum und ein Austausch über politische, wirtschaftliche und soziale Fragen entwickelt, bei dem immer mehr Menschen ausschließlich in ihren jeweiligen sozialen Blasen kommunizieren und aus ihnen ihre Informationen über das Weltgeschehen erhalten. Zwar bestimmte auch früher die Wahl einer Tageszeitung die politische Grundtendenz der gelieferten Inhalte, aber zum einen hatte nicht jede Sekte eine Tageszeitung, mit der sie auch noch jede Ecke der Welt erreichen konnte. Zum anderen konnte nicht jeder Unsinn publiziert werden, weil die gedruckten Seiten auch am nächsten Tag noch vorhanden waren. Und gegen beweisbar falsche Meldungen konnte medial wie im Zweifel auch presserechtlich vorgegangen werden. Schreiben konnte man im Wesentlichen also nur das, zu dem man später auch stehen konnte und bereit war, es argumentativ zu verteidigen.
Dies gilt im Zeitalter des Internet nicht mehr, in dem ungeprüfte, aber für die jeweilige soziale Blase passende Informationen sich - zumindest innerhalb dieser Blase - in Windeseile verbreiten, ohne dass Fakten von Gerüchten und Meinungen zu unterscheiden sind. Erreichen solche Meldungen dann VertreterInnen anderer Blasen, können sie leicht abgewehrt werden als typischer Blödsinn der “Populisten”, der “Rassisten” oder wahlweise der “Gutmenschen” und der “Lügenpresse”. Sie belegen dann einmal mehr die grundsätzliche Dummheit und/oder Gefährlichkeit der anderen Gruppe.

            Postfaktisches Zeitalter

Beides zusammen, d.h. die Kompliziertheit der Welt und das geänderte Medienverhalten, führen zu dem, was als postfaktisches Zeitalter beschrieben wird. Es ist objektiv schwieriger geworden, Fakten als solche zu erkennen, auch “Fakten” sind relativiert. Zusätzlich ist es wesentlich einfacher geworden, Lügen oder reine Interpretationen zu verbreiten; und die sozialen Blasen in den Netzwerken dienen zur Verifikation der eigenen Ansichten: „Nicht nur ich sehe das so, sondern alle Freunde und Freunde von Freunden, die ich kenne und alle anderen Medien, zu denen ich von ihnen verlinkt werde. Wir sind das Volk oder zumindest 99 %. Anders sehen können das nur ganz wenige, gesteuert vom Establishment, der Lügenpresse oder - im geringeren Ausmaß - von links, gesteuert von den oberen 10.000 des weltweiten Finanz- und Monopolkapitals.“

4         Aktuelle Fragen

Mit Begriffen wie Komplexität der Welt, Internet und Medienverhalten und Postfaktisches Zeitalter kann erklärt werden, wie der Prozess des Rechtspopulismus, der Scharlatanerie und der Verbreitung einfacher autoritärer und fundamentalistischer Lösungsangebote funktioniert.
Warum gibt es aber keine tragende linke Bewegung? Bei der Linken gibt es - erfreulicherweise - nicht nur einen Mangel allzu einfacher Lösungsangebote, sondern - fatalerweise -  auch ein Fehlen systemsprengender Lösungsangebote. Dies sicherlich deshalb, weil die Linke zu einem großen Teil ins System bzw. “in das Establishment” eingebunden ist und ihr daher der Blick von außen abhandengekommen ist. Es fehlen also Antworten. Hinzu kommt, dass dort, wo solche Antworten - systemimmanent oder darüber hinausweisend - gegeben werden könnten, dies nicht geschieht, weil in der heutigen Kommunikationsstruktur kaum noch mit den Anderen geredet wird, weil es sich ja sowieso um „Deppen“ oder „Faschos“ handelt, die linke Positionen wiederum unter „Lügenpresse“ oder „linksgrün versiffte Gutmenschen“ einordnen.      
Für die Linke stellen sich daher einige Fragen: Mit der Rechten diskutieren oder sie ausgrenzen? Das Establishment verteidigen oder (von links) angreifen?

            Rechte ausgrenzen oder mit ihnen streiten?

Diese Frage ist nicht neu, die Linke ist unter anderem an dieser Frage bereits in der Weimarer Republik gescheitert, und bei jeder Neonazi-Gruppe im Jugendfreizeitheim und jeder Wahl von NPD, Republikanern oder ähnlichen Parteien in ein Parlament, egal auf welcher Ebene, stellt sie sich neu. Als in den meisten Fällen sinnvolle Antworten haben sich herausgestellt:
·         In der Gesellschaft: Möglichst unterscheiden zwischen organisierten Rechtsextremen und “Mitläufern”; erstere möglichst ausgrenzen und mit letzteren reden, sie mit den Konsequenzen ihrer eigenen Sprüche konfrontieren und sie so aufklären.
·         In Parlamenten und Verwaltungen: Keine aktive Kooperation; sie aber auch nicht ständig zum Thema machen, sie nicht mittels Rechtsbeugung oder Gesetzesänderung ausgrenzen, sie in der Alltagsarbeit entlarven und idealerweise sich selbst in innerparteilichen Kämpfen zerlegen lassen, was bisher in der Bundesrepublik auch immer geklappt hat.   
Gegenwärtig ist das komplizierter geworden. Zum einen, weil mit Aufkommen der AfD eine Partei existiert, die mehr als nur regional oder in einzelnen Ländern Wahlerfolge hat und die nicht nur rechtsextreme Wurzeln hat[5]. Zum anderen aber ist die Unterscheidung zwischen Mitläufern und organisiertem Kern schwieriger geworden, vor allem durch die Aspekte des Postfaktischen Zeitalters (s.o.). Jeder und jede kann z.B. bezogen auf einen “Lügen-Journalisten”- möglicherweise nur aus einer Stimmung heraus - in seinem sozialen Netzwerk mit einem Post wie “Den sollte man abfackeln.” - zum gelikten und geteilten Agitator und Organisator werden. Hinzu kommt, dass meist auch die demokratische/linke Gegenseite in ihrer eigenen Blase kommuniziert und deshalb die Diskussionen der Rechten und ihres Umfeldes nicht wirklich mitbekommt. Es droht also ein Abstempeln von Menschen zu “Nazis” oder mindestens “Rassisten”, die sich subjektiv überhaupt nicht so fühlen und es in weiten Teilen ihres Alltags auch nicht sind.
Es ist daher in der heutigen Situation wichtig, sehr zurückhaltend mit der Strategie der Ausgrenzung zu sein und stark auf Diskussion und “Spiegel vorhalten” zu setzen: “Willst du wirklich, dass jemand ermordet wird?”. Seit der Wahl von Trump - auch die Journalisten und Wahlforscher hatten hier offensichtlich den Wahlausgang stark aus ihrer Blase heraus vorhergesagt - scheint sich diese Position auch mehrheitlich durchzusetzen.

            Establishment verteidigen oder angreifen?

Auch die Frage, ob das wie oben definierte Establishment politisch angegriffen oder verteidigt werden sollte, wird gegenwärtig in der Linken diskutiert. Als deutsches Beispiel sei hier Merkel genannt, die insbesondere für ihre Flüchtlingspolitik in einer Weise von rechts angegriffen wird, dass sich auch große Teile der radikalen Linken zu ihrer Verteidigung verpflichtet fühlen. Und tatsächlich lässt sich auch hier eine auf den ersten Blick einfache Antwort finden: sie dort zu unterstützen, wo sie aus linker/sozialer/humanistischer Sicht richtig handelt, und sie dort politisch anzugreifen, wo sie das nicht tut. In den USA und von dort nach Europa getragen ist der Streit schon heftiger, wenn sich nach der Trump-Wahl die Frage stellt, ob die Linke nicht doch hätte mit aller Macht versuchen sollen, Sanders als Kandidaten durchzusetzen. Aber: Hätte dieser mehr Stimmen bekommen, als die Vertreterin des Establishments Clinton oder hätte er als ausgewiesener Linker noch mehr Wechselwähler aus der “Mitte” zu Trump getrieben?
Um überhaupt wieder Alternativen von links anzubieten, die über das Establishment hinausgehen, sollte grundsätzlich auf Angriff/politische Offensive gesetzt werden (vgl. ökonomisch-soziale Dauerkrise), was natürlich nicht heißt, nicht auch sozialdemokratische oder konservative Menschen gegen Nazis und andere Reaktionäre in Schutz zu nehmen.   
Auch hier wird das völlige Fehlen einer glaubwürdigen linken, System überwindenden oder mindestens ernsthaft ändernden Perspektive deutlich.
Was müsste eine solche Perspektive denn auszeichnen? Hierzu einige Erläuterungen.
Um sich bei einem politischen Angriff zur Durchsetzung dieser Perspektive nicht lächerlich zu machen, müssen seine Ziele nachvollziehbar und einigermaßen glaubwürdig sein und auch mittelfristig erreichbare Elemente enthalten[6]. Gleichzeitig muss er „das Unmögliche[7] fordern“ um Wirkung zu entfalten.
Gegenwärtig wird das Unmögliche, d.h. das unmöglich Scheinende,
  • entweder gar nicht mehr gefordert - in der SPD, der Mehrheit der Grünen und Teilen der LINKEN -,
  •  oder als nur gewerkschaftliche, soziale Forderung aufgestellt (Lohnerhöhungen, soziale Sicherheit), für deren Erfüllung dann das System zuständig ist, was es teilweise tatsächlich kann. Wenn es dadurch in Probleme gerät, wie in Deutschland letztmalig Anfang der 2000er Jahre, erfüllt es entsprechende Forderungen nicht mehr und reagiert mit Sozialabbau wie der Agenda 2010 unter Rot-Grün.[8]
  • oder in eine linksradikale Theorie verpackt, die gerne eine zukünftige Revolution vorbereiten möchte, welche aber offensichtlich in der näheren Zukunft nicht ansteht und die deshalb über Lamentieren und Diskussionszirkel nicht herauskommt,
  • oder - für einen kleinen Teil der Autonomen - durch das Abfackeln von PKW beschleunigt werden soll. 
Im Folgenden möchte ich daher einen Vorschlag für eine glaubwürdige, auch systemändernde, linke Perspektive machen, deren Grundideen neben den klassischen linken Theoretikern auf die Arbeiten von Hannah Arendt - insbesondere “Vita activa oder Vom tätigen Leben” - und David Graeber - “Schulden die ersten 5000 Jahre” und “Bürokratie” zurückgehen.





[1] „Links“, weil das Establishment von Rechts (AFD- oder Trump-Wähler, aber auch CDU-Unterstützer, die Merkel lieber loswerden wollen) so gesehen wird und weil Viele aus dem Post-68-Establishments, sich auch selber noch links verorten. „Links“ in Anführungszeichen, weil es das in der Realität nicht (mehr) ist.
[2] Koalitionen können nur eingegangen werden, wenn eine linke Partei (In Deutschland gegenwärtig „Die Linke“) wirklich das Bewusstsein aufrechterhalten kann - und nicht nur in Sonntagsreden erzählt - , dass die Auseinandersetzungen in der Gesellschaft wichtiger sind als die Regierungsbeteiligung und dass sie selber also nicht zum Establishment gehören. Aktuelles Berliner Beispiel: „Egal, wie man zu Holm steht. Es ist schrecklich, wie sich rot-rot-grün hier jagen ließ. Die Linke verlor nach Meinungsumfragen noch nicht einmal Unterstützung. Trotzdem die innere Diskussion, dass diese Situation den Senat schwächt und dann die Aufgabe von Holm.
Diese Probleme sind mit selbstgemacht, weil man sich als Teil des bewertenden Establishments verhält/empfindet, auch wenn man es sich nicht eingesteht. Trump, der sagt und ausstrahlt: „Ist mir doch egal, was die in Washington denken.“, ist da viel stärker.
[3] Ausnahmen bestätigen dabei natürlich die Regel: 5 Sterne, Syriza, Podemos haben radikale aber auch Establishment-suchende Anteile. Mit Laiki Enotita - Einheit des Volkes - sind viele radikale Linke aus Syriza rausgegangen; ob das sinnvoll ist, sei dahingestellt. Es bleibt immer die gleiche Frage, ob Menschen, die radikale Veränderungen wollen, in große Organisationen reingehen können, ohne sich anzupassen. Diese Frage ist spannend, kann aber in diesem Text mit Sicherheit nicht beantwortet werden. Sie ist in diesem Zusammenhang aber auch nicht zentral. Die im zweiten Teil dieses Textes „Vorschlag für eine linke Perspektive - Staat, Markt und Alltagskommunismus“ vorgeschlagenen Schritte zielen nicht auf ein abruptes, revolutionäres Ereignis hin, für das ein „lupenreines“ revolutionäres Bewusstsein von Nöten wäre (und bei dessen Definition vermutlich im wesentlichen Sektierertum herauskommen würde).
[4] Reichsbürger wie auch Homöopathen verlassen aber das in unserer Gesellschaft bisher allgemein akzeptierte und politik- bzw. naturwissenschaftlich anerkannte Weltbild. Der Vergleich soll auch nicht Homöopathen in die Nähe von Reichsbürgern rücken, sondern - wenn überhaupt - Reichsbürger in die Nähe von Homöopathen. Auch Reichsbürger sind philosophisch gar nicht so schlimm, nur politisch. Vielleicht werden sie gegenwärtig nach rechts geschoben. Als sie entstanden sind, hatten sie mit Nazis ganz überwiegend nichts im Sinn. Es geht an dieser Stelle auch nicht um die politische Gefahr, die von Gruppen ausgeht, sondern um deren Irrationalität. Dies soll auch an Gruppen verdeutlicht werden, die von der (aufgeklärten?) Mehrheit nicht sowieso - „weil böse“ - ablehnt werden.
[5] Letzteres ändert sich möglicherweise, wenn die CDU sich weiter nach rechts wendet und den rechts-konservativen Flügel der AfD wieder aufnimmt. Bereits in den letzten Jahren seit ihrer Gründung ist die AfD mehrheitlich weiter nach Rechtsaußen gegangen.
[6] Das „Gleichnis des Buddha vom brennenden Haus“ von Bertolt Brecht gilt nicht mehr unhinterfragt. In diesem Gedicht vergleicht Brecht Menschen, die im Kapitalismus bleiben wollen, weil sie nicht genau wissen, was danach kommt, mit Bewohnern eines brennenden Hauses, die dieses nicht verlassen, weil es draußen ja regnen könnte. Ich denke dieses Gleichnis gilt nicht in einer Zeit, in der die Zerschlagung der Wirtschafts- und Sozialstrukturen mit größerer Wahrscheinlichkeit zu dauerhaften Bürgerkriegen und zur Herrschaft von Warlords führt, als dass sie in eine friedliche, sozialistische, produktive und nachhaltige Gesellschaft mündet. In einer solchen Situation müssen die Alternativen aufgezeigt werden, bevor VW, BAYER, Deutsche Bank, Allianz etc. geschleift werden können. Wobei mindestens zwei der aufgezählten Konzerne gerade dabei sind, dies alleine zu erledigen.
[7] Nach dem Che Guevara zugeschriebenen Satz “Seid realistisch - fordert das Unmögliche!”
[8] Soweit gewerkschaftliche Forderungen aufgestellt werden, die im System nicht erfüllbar sind, geschieht dies in der Hoffnung, dass sich diese dann zu systemüberwindenden Forderungen und Reformen entwickeln würden. Dies ist mehr als trügerisch, wenn die Fordernden selber gar nicht wissen, wie die Systemüberwindung aussehen soll. In diesem Text wird wenig eingegangen auf den alten sozialdemokratischen oder skandinavischen Weg des Kapitalismus. Hierzu ist von linker Seite schon viel geschrieben worden. Dieser Weg endet immer, wenn es im Spannungsfeld Kapital/Markt und Staat/Bürokratie keine Wahlmöglichkeit mehr gibt und die Regierung gezwungen wäre, Politik gegen die Sachzwänge des Kapitalismus und nicht nur gegen Extraprofite einzelner Kapitalfraktionen zu machen. Letztendlich wäre die Voraussetzung, damit ein „dritter Weg“ funktionieren kann, eine Beschneidung des Kapitals derart, dass seine Sachzwänge nicht mehr maßgeblich sind, dann könnte man auch gegen sie regieren. Es gäbe dann kein „Too big to fail“ mehr. Dieser Text schlägt - gegenüber den bisherigen Ideen vom 3. Weg -  Alltagskommunismus und Dezentralität als wichtige zusätzliche Bestandteile einer Wirtschaftslogik vor, die eine entsprechende Beschneidung des Kapitals schon vor der Krise ansteuert.

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